Drei Menschen. Zwei Wege. Eine Brücke.

von Roland Krämer


Idyllisch liegt sie, die kleine Brücke, die sich über den Bach mitten im Park schwingt. Der Betrachter fühlt sich unwillkürlich an die Japanische Brücke in Giverny erinnert, die Claude Monet in seinem Garten so oft gemalt hat, dass viele Menschen sie direkt vor ihrem inneren Auge sehen.
Schön liegt die kleine Brücke in der Morgensonne, und genauso anziehend wird ihr Anblick am Abend sein. Bedacht und klug hat man den Ort der Brücke so ausgewählt, dass Morgen- und Abendsonne sie gleichermaßen bescheinen und leuchten lassen.
Nicht nur im Sonnenschein strahlt die kleine Brücke Ruhe aus. Unter dichten Wolken, wenn Regentropfen auf sie perlen, wenn Nebel sie verhüllt, lädt die kleine Brücke dazu ein, sie zu betreten und auf ihr innezuhalten, um den Augenblick zu genießen oder zu durchleiden, je nachdem.

Wie von selbst haben sich ihre Hände gefunden. Immer wieder spüren sie, wie der Rhythmus ihres Gehens sich aneinander angleicht und wie sie das beide beschwingt. Ab und zu treffen sich ihre Blicke, und sie verstehen sich ohne Worte.
Sie sind frisch verliebt und gehen zur Zeit jeden Abend miteinander durch den Park.

Seine Hände sind fahrig geworden. Die Arme baumeln, die Schultern hängen, der Gang ist gebeugt. Nur selten trifft sein Blick die Augen anderer Menschen. Er geht nicht, er schlendert nicht, er trottet, manchmal stolpernden Schrittes.
Er ist frisch getrennt und geht zur Zeit jeden Morgen allein durch den Park.
Oft genug geschieht das nach einer durchgegrübelten Nacht. Vor der Arbeit sich bewegen, frische Luft schnappen, die Gedanken ordnen, die so wirren Gedanken.
Nach den ersten Schritten wird ihm leichter. Innerlich fühlt er sich noch oft wie tot, gleichzeitig spürt er erwachendes Leben um ihn herum. Vögel, Frösche und Eichhörnchen regen sich, der Tau glitzert in der Morgensonne.
Zunehmend führt ihn sein Weg durch den Park über die kleine Brücke. Er mag ihren Anblick bei jedem Wetter. Die Brücke ist ihm vertraut geworden. Immer wieder bleibt er auf ihrer Mitte stehen und hängt seinen Gedanken nach. Und denkt an seine große Liebe. Sie fehlt ihm nach wie vor. Obwohl sie schon vor Wochen gegangen ist, geht die Leere in ihm nicht weg.
Mit der Zeit hat er sich angewöhnt, mitten auf der Brücke an sie zu denken. Und je öfter er das tut, desto mehr spürt er die Leere in sich, die Lücke, den Verlust, den Schmerz.
„Mein Leben spielt sich zur Zeit auch auf einer Brücke ab“, denkt er. Auf der Brücke von der Vergangenheit in die Zukunft. Die Gegenwart ist flüchtig geworden. Zum flüchtigen Innehalten geworden zwischen dem alten Ufer und den neuen Ufern.
An einem Morgen, als die Sonne sich noch durch den Nebel kämpft, steht er auf der Brücke und spürt, dass sich etwas verändert. Zunächst kaum zu merken, dann immer mehr zu spüren. Die Lücke wird kleiner, der Schmerz lässt nach, aber das ist es noch nicht. Erst zögernd, dann klarer fühlt er: die Leere in ihm verändert sich.
Er blickt die Brücke entlang, zurück und dann nach vorne. Auf das Ufer vor ihm. Die Leere ist noch da, aber nun wirkt sie nicht mehr hohl. Die Leere in ihm möchte gefüllt werden. Sie steht für Offenheit, für Neugier und Bereitschaft. Früher hat ihm die Leere zu schaffen gemacht, heute inspiriert sie ihn.
Dafür hat er mit der Zeit ein Ritual entwickelt. Auf der Brücke bleibt er stehen. Und blickt nach unten auf den kleinen Bach, der unter der Brücke durchfließt. Denkt nach und spürt. Und fühlt. Lässt die Brücke auf sich wirken und bleibt eine Weile so stehen.

Die beiden gehen immer abends durch den Park. Sie schätzen das Spiel der Farben in der untergehenden Sonne und sie mögen diese Zwischenzeit vor der Dämmerung. Diese Zwischenzeit nach den Mühen eines langen Arbeitstages bildet eine Brücke zur Vorfreude auf einen innigen Abend zu zweit.
Mit Blicken hat es angefangen. Dann kamen Gedanken und Gefühle. Und nach den ersten Berührungen ging es schnell.
Gleichzeitig sind sie zwei Menschen, die sich reflektieren. Verliebtsein und Vernunft bilden für sie keine Gegensätze, eher zwei Seiten einer Medaille, verbunden durch eine Gedankenbrücke. Sie wissen, dass sie sich auch nach Monaten noch durch die Brille des Verliebtseins sehen und ihnen das Eintreten in die Realität erst noch bevorsteht. Sie befinden sich auf der Brücke vom Verliebtsein in eine dauerhafte Beziehung, auf dem Weg zu neuen Ufern.
Die kleine Brücke hat sie sofort angezogen. Es war zum einen das Verspielte und das Elegante, zum anderen nehmen sie die Brücke als Symbol für ihre Lebenslage. Alte Ufer haben sie hinter sich lassen und sind aufgebrochen. Zunächst jeder für sich, dann haben sie sich mitten im Aufbruch gefunden. Und nun gehen sie ihren Weg gemeinsam. Behutsam, tastend, manchmal zögernd. Und spüren: an neuen Ufern sind sie noch nicht angekommen. Sie sind immer noch auf der Brücke.
Mit der Zeit haben sie ein Ritual entwickelt: Jedes Mal, wenn sie über diese Brücke gehen, bleiben sie stehen. Schauen sich um, halten inne, nehmen sich wahr. Und dann küssen sie sich. Mitten auf der Brücke.

Noch wissen die beiden Verliebten und der Einsame nichts voreinander. Der eine kommt morgens, die anderen abends. Eine Brücke, zwei Zeiten.
Dann ändert sich das. Es ergibt sich einfach. An einem Tag gehen sie alle drei entgegen ihren Gewohnheiten während der Mittagspause in den Park und steuern auf die kleine Brücke zu. Nun kommt es doch zu einem Zusammentreffen. Mitten auf der Brücke. Plötzlich stehen sie einander gegenüber.
„Wie glücklich die beiden miteinander wirken“, denkt er. „Man sieht es ihnen an, und man spürt es ihnen ab. Die Blicke, die Körperhaltung, der Rhythmus des Gehens auf einem gemeinsamen Weg.“
„Was ist mit ihm? Glücklich sieht er nicht aus. Unglücklich aber auch nicht. Er wirkt, als trüge er eine Last. Aber es wirkt auch, als sei er im Begriff, diese Last abzuwerfen, wirkt wie einer, der sich auf den Weg gemacht hat.“ Solche Gedanken kommen dem jung verliebten Paar.
Dann fasst sie sich ein Herz. Und macht den ersten Schritt. Fragt, wie es ihm geht. Und nun beginnen alle, zu erzählen.
Als sie sich von einander verabschieden, verstehen sie einander. In der Tiefe, mit Worten und ohne Worte.
Die Brücke ist ihr Ort geworden. Ein Ort des Übergangs, des Innehaltens und der Begegnung. Ein Ort, an dem Leere gefüllt wird. Und ein Ort des Aufbruchs zu neuen Ufern.


© Roland Krämer
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