Heimkehr

von Lesego Mosupyoe


Heute betrete ich den Hof einer Kirche. Seltsam. Ich kann mich nicht erinnern, dies jemals getan zu haben.
Schon während meiner Kindheit hat mir Vater von den Gräueltaten der Christen erzählt: Sie haben unsere Ahnen in Ketten gelegt und auf Schiffe gebracht. Das schwere Los der zahllosen Unschuldigen erschüttert mich.
„Sogar Schweine werden besser behandelt“, pflegte Vater zu sagen. Dann erzählte er von den Schrecknissen, denen die Hinterbliebenen zum Opfer gefallen waren.
„Die Eindringlinge beraubten Bildungseinrichtungen und Gebetshäuser, machten ganze Städte und Dörfer dem Erdboden gleich. Außerdem wurden die Menschen auch im eigenen Reich zutiefst gedemütigt. Aus Gelehrten und Kaufleuten wurden Bauernknechte. Königinnen und Geistliche wurden zu Köchinnen und Putzfrauen gemacht … Rücksichtslos wurde die Ehre der sittsamen Töchter verletzt!“
Auch jetzt sehe ich Vaters Lippen vor mir beben, höre und spüre das Zittern seiner Stimme.

Heute stehe ich vor einer Kirche. Mich hat die Musik gerufen. Trotz ihrer Zärtlichkeit hat sie den Lärm der Straße zu übertönen vermocht. Diese Melodien sind wie Balsam für meine Seele. So stelle ich mir das Tor zum Paradies vor.

Meinen Vater konnten nur die alten Gesänge und Tänze unseres Volkes berühren. Kirchen mied er bewusst. Unermüdlich riet er mir, das Gleiche zu tun. Bis zu seinem Ableben konnte Vater kein gutes Wort über die Weißen aussprechen. Der Schmerz saß zu tief. Eigentlich war das Zeitalter der Versklavung längst vorbei, als Vater auf die Welt gekommen war. Gleichwohl hatte er schon als Knabe die Folgen gespürt. Aus einstigen Siedlungen waren Einöden geworden. Böden und Gewässer waren vergiftet. Auch die Viehzucht wollte nicht gelingen. Wie auch viele weitere Einheimische jener Zeit hatte sich Großvater genötigt gesehen, eine Anstellung in einer weit entfernten Stadt zu suchen. Mit etwas Glück konnte er einmal im Jahr seine Familie besuchen.

Mit jedem Schritt auf dem Kirchhof werden meine bleiernen Füße leichter. Die Stimmen aus dem Gebetshaus massieren weiterhin meine Ohren. Zugleich erwecken sie die Erinnerung an eine vertraute Musik: Im Garten meiner Eltern bildeten die Stimmen der Vögel und Krabbeltiere ebenfalls einen Chor. Die zarten Flügelschläge, das graziöse Schweben und die kuriosen Bewegungen der Füßlein waren wie ein Tanz, der – gleich den vielen süßen Melodien – sich stets erneuerte. Aus den vielfältigen Farben ergab sich ein Bühnenbild ohnegleichen. Man saß oft und gern beisammen. Dann wurden die Glieder erquickt, und die Sprache verstummte vor der Schönheit der Schöpfung.
Anders als Vater war Mutter den Weißen freundlich gesonnen. Von ihr habe ich erstmals von den wohlwollenden Fremden erfahren, die die ersten Schulen und Waisenhäuser in unserem Land gebaut hatten. „Zudem haben diese Menschen mit großer Hingabe unsere Kultur erforscht und in Büchern verewigt. Diesen Botschaftern Gottes ist zu verdanken, dass gegenwärtig viele in unserem Land abendländische Sprachen in Wort und Schrift beherrschen. Heute können unsere Stammesgenossen im Büro arbeiten, große Geschäfte führen oder sogar in Regierungskreisen mitbestimmen.“
Überhaupt hatte Mutter eine große Begabung dafür, das Gute im Menschen zu fördern.

Wie oft habe ich mir gewünscht, dass mehr Landsleute meine Mutter gekannt hätten! Vielleicht wären dann die Unruhen nicht entstanden, die mittlerweile das Gesicht meiner Heimat geändert haben.

Den anfänglichen Veranstaltungen hatte ich regelmäßig beigewohnt, dies geziemt sich für einen verantwortungsbewussten Bürger. Doch bald fing ich an, das Geschehen in Frage zu stellen: Wie konnte man Menschen Wohlstand versprechen, aber gleichzeitig Märkte und Geschäfte plündern lassen? Wie konnte jemand, dessen Anhänger Schulen verbrannten, über Fortschritt reden? Von einigen der Anführer hieß es, dass sie sogar minderjährige Mädchen mit Gewalt an sich rissen. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich dankbar, dass mein Vater das Zeitliche gesegnet hatte. Ihm hätte dieser Unfug einen tiefen Stich ins Herz versetzt.
Eine Zeitlang kam Hilfe aus dem Ausland. Geharnischte Wohltäter. Die Älteren und Kranken gewannen ihre Würde wieder. Den Bedürftigen wurde Notwendiges gebracht. Jedes Kind konnte unbesorgt in die Schule gehen. Zerstörte Bauten strebten dem Himmel erneut entgegen. Die Wirtschaft erfreute sich eines Frühlings. Jedoch gelang es dem Heer des Bösen, nach und nach das Gute zu vertreiben. Allgemach verließen unsere weißen Brüder und Schwestern die geliebte Heimat. Später begannen auch Menschen wie ich das Schlimmste zu befürchten.

Sachte umarmt mich der Kirchenchor und trägt mich aus der Trübnis fort. Dass Menschenzungen auch heilen können! Wie schön diese Fensterscheiben leuchten.
Nun denke ich an den Tanz des Lichts auf dem Meeresspiegel. Die Dämmerung bot dem Auge mannigfaltige Bilder und Farben dar. Behutsam trug uns das Wasser dem goldenen Horizont entgegen. Man vergaß das heiße Verlangen nach Zuhause. Zeitweilig verschwand auch die Sorge um das Wohl von geliebten Menschen. In der Wirrnis der Flucht war an Abschied nicht zu denken. Die labende Meeresluft milderte auch die Trauer um den bescheidenen Wohlstand, der durch Soldatenstiefel zertreten worden war. In diesen idyllischen Momenten lauschte ich stundenlang der Stille. Jedes Mal glaubte ich, eine Musik zu vernehmen. Wiegenlieder meiner Schmerzen.
An die Gewitter denke ich ungern. Dann peitschten Blitze Wasser und Fahrzeug. Das wilde Tosen schien alle Hoffnung zermahlen zu wollen. Kinder und Frauen heulten mit dem Wind um die Wette. Erbarmungslos durchschnitt die Kälte alle Knochen. Bisweilen bedauerte man, seine Mahlzeit eingenommen zu haben. Eines Nachts bemerkte ich, wie ein Landsmann über Bord sprang. Mein Schreien und Laufen half nicht … Vor Jahrhunderten waren Menschen gefesselt und ins Meer geschleudert worden. Diesem Bruder war es in gewisser Weise ähnlich ergangen. Er war ein Gefangener der Hoffnungslosigkeit geworden.
Auch ich laufe ständig Gefahr, in die Abgründe meiner Seele zu stürzen. Mich hat immer der Glaube gerettet. Es gibt keine größere Macht als die des Glaubens.
Und zweifelsohne ist die Musik das wirksamste Werkzeug der Gottheit. Wie könnte es diesen Menschen sonst gelingen, meine Wunden zu waschen, ohne mich mit Händen zu berühren, ohne mich zu sehen? Wieso gibt mir dieser Gesang ein Gefühl der Zugehörigkeit, obwohl ich nicht einmal die Worte verstehe?
Ebenfalls unbegreiflich ist mir das Betragen meiner Landsleute: Zu meinem Heimweh und zu den vielen Alpträumen hat sich die Scham gesellt, die meine Brüder und Schwestern entzündet haben. Seit unserer Ankunft im Gastland fehlt es uns an nichts. Nunmehr sind uns sogar auch Bildung und Broterwerb gestattet. Einem ehrenhaften Neuanfang steht nichts im Weg. Gleichwohl droht unserer Gemeinschaft der Verfall. Zuhause war es gang und gäbe, Haus und Hof regelmäßig zu kehren. In unseren neuen Siedlungen gibt es jedoch Unreinheiten, die in Auge und Nase brennen. Einige Männer machen fragwürde Geschäfte und haben einen Bruderzwist entfacht. Mich wurmt die faule Sprache. Die bitteren Tränen vernachlässigter Kinder fließen in meine Wunden. Darf ich an Heilung denken? Einigen Töchtern meiner Heimat ist die Sittlichkeit abhandengekommen. Willig folgen sie jedem Vorbeiziehenden, tragen goldene Ketten.

Das Lied neigt sich dem Ende zu. Den Schluss möchte ich auskosten. Unter meinen schmerzenden Sohlen fühlt sich der Boden wie Samt an und lädt zum Sitzen ein. Ich lehne mich an die Wand. Wie labend. Mit geschlossenen Augen kann man besser hören.
Eine zarte Stimme berührt mein Ohr. An dem Gewand meines Gegenübers erkenne ich, dass er Geistlicher ist.
Er spricht meine Sprache.
„Wie schön, dass Sie zu uns gekommen sind. Möchten Sie vielleicht eintreten? Wir würden uns sehr freuen, gemeinsam mit Ihnen Ostern zu feiern.“
Ostern. Das Wort birgt Erinnerungen:
Vor meinem inneren Auge sehe ich lachende Christenkinder bunt bemalte Eier enthüllen. Entzückt entferne auch ich die Schale meiner Kindheit: Ich sitze im Klassenzimmer. Gebannt lauschen wir den lebhaften Schilderungen des Lehrers. Dieser erzählte oft von einem Vater im Himmel, der alles erschuf und dessen Liebe und Großzügigkeit unerschöpflich sind.
„Seine Kinder genießen Wohlergehen und Wohlstand. Außerdem vergibt der Himmlische Vater auch den größten Fehler.“
Zugleich kann dieser Gott schwer bestrafen. Eines Tages ließ er tausende Ungehorsame ertrinken. Die Gehorsamen durften in einem mächtigen Schiff zu einem sicheren Ufer gelangen. Der Himmlische Vater hatte einen irdischen Sohn, dem er große Gaben beschert hat. Ich erinnere mich an die Wunder, die dieser Sohn vollbrachte. Ich erinnere mich an das Kreuz, das er tragen musste … Ich erinnere mich an christliche Bräuche, die mit jedem verstohlenen Blick an Fremdheit verloren.

Ich erinnere mich an vertraute Klänge und Düfte, an Farben und Gesichter, an Wärme und Fröhlichkeit …

In unserem Gebetshaus daheim wurde ebenfalls gesungen. Auch unsere Geistlichen strahlten eine Wärme aus, die nahezu übermenschlich wirkt. Nun denke ich an meine Eltern, die oft und gern über unseren Glauben sprachen. Ich habe in meinem Leben keine Suppe gekostet, die gleichermaßen wärmen und stärken kann; keine Decke getragen, die einen vergleichbaren Schutz bietet. Auch unser Glaube erkennt Auserkorene an – Hüterinnen und Hüter der Tugend.

Ostern. In dem Namen lebt Geborgenheit. Heute betrete ich eine Kirche.


Heute sitze ich in der Kirche. Es ist wieder Ostern, genau wie damals. Nunmehr fühle ich mich hier wie zu Hause. Dankbar blicke ich zur Kanzel empor. Dort steht wie immer mein rettender Engel und erzeugt mit seinen Worten Lichtstrahlen. Nach wie vor wärmt und erquickt mich der Chor. Neben mir sitzt meine Braut, innerlich und äußerlich schön. Liebevoll streichelt sie ihren runden Bauch. Ebenso liebevoll näht sie die Risse in meiner Seele zu.


© Lesego Mosupyoe
Zur Projektseite: „Brücken“