Sieben plus 1
von Marion Kulinna
Sie freute sich auf den Abschluss ihrer Fahrradtour über alle Brücken ihrer Heimatstadt – eine imposante Fußgängerbrücke im Süden der Stadt, die einen Seitenarm des Rheins überspannte und einen schönen Blick auf den dortigen Hafen bot. Der sanfte Wind, die dicken Quellwolken und annehmbare Temperaturen versüßten zudem jede Radumdrehung. Ihr E-Bike war ihr bei den insgesamt etwa 30 km hin- und herüber über alle großen Querungen eine tolle Hilfe und wieder einmal war sie dankbar für den allseitigen Zuspruch beim Kauf des gebrauchten Zweirades.
Jetzt peilte sie die Auffahrt auf der linksrheinischen Seite an, die steil und in langgezogenem Bogen nach oben führte. Sie wusste, dass sie es auch hier schaffte. Ihr Akku zeigte noch eine Kilometerstrecke von 30 km. In der Toureneinstellung und im mittleren Gang nahm sie die ersten Meter in Angriff und näherte sich dem Kurvenbereich. Sie schaltete noch einmal runter, damit sie nicht völlig atemlos oben ankam. Da das Rad brav mithielt, achtete sie jetzt vermehrt auf die entgegenkommenden Fußgänger, damit sie sie nicht zu arg bedrängte. Nur noch wenige Meter, dann hatte sie den höchsten Punkt erreicht. Sie wagte schon einen Blick auf die ankernden Schiffe. Es waren große Frachter dabei, einige Motorboote und auch ein einzelnes Segelschiff konnte sie ausmachen, dessen Seile durch den immer vorherrschenden Wind gegen den Alumast klimperten. Sie liebte das Geräusch und schaute, oben auf der Brücke angekommen, zunächst auf den Windmesser am oberen Ende des Mastes. Alles im grünen Bereich für die Rückfahrt auf der rechtsrheinischen Seite. Doch zunächst: Blicke schweifen lassen und einen Schluck aus der mitgeführten Trinkflasche nehmen. Mit geschlossenen Augen legte sie den Kopf in den Nacken um einerseits mehr Flüssigkeit aufzunehmen und andererseits die Sonne auf ihrem Gesicht besser zu spüren. Als sich eine Wolke vor den Energieball schob und ein Schatten ihren inneren Blick verdunkelte, öffnete sie sie wieder und sah sich um. Wie entspannt die Menschen hier waren, sogar jene, die noch mit dem beidseitigen Aufstieg beschäftigt waren. Niemand schnaubte ohne Atem, sondern schaute zu beiden Seiten mit neugierigem Blick zwischen die Stäbe des Geländers. Jung und alt genossen es, diesen Nachmittag im Freien verbringen zu können. Auch die abgelaufene Maskenpflicht ließ die Menschen offenen Auges in die Gesichter der Entgegenkommenden mit einem Lächeln auf den Lippen blicken. Endlich konnte man ein Lächeln direkt von ihnen ablesen und war nicht auf die Deutung schmaler werdender Augen angewiesen. Und alle – na ja, fast alle – nutzten die Stimmung des Augenblicks für diesen Gesichtsausdruck. Sie selbst war mehr als dankbar dafür und ließ in ihr innere Zufriedenheit aufkeimen. So muss sich gutes Leben anfühlen. So und nicht anders.
Noch einmal warf sie einen Blick in den Hafen, schaute auf den sanften Seegang und das Plätschern der Wellen an die Uferbefestigung. Dann stellte sie die Flasche wieder in den Getränkehalter zurück, vergewisserte sich, dass der Verschluss auch ordentlich zugeschraubt war und schaltete den Motor ihres Bikes wieder ein. Brückabwärts reichte der Ökogang völlig aus und erlaubte ihr vielleicht einen entspannteren Heimweg, ohne einen ständigen Blick auf den Akkustand werfen zu müssen. Sie setzte den rechten Fuß auf die obere Pedale, wartete auf freie Bahn ohne Fußgänger, denn sie wollte mit möglichst hohem Tempo hinunterbrausen.
Kurz vor dem Beginn der abwärtigen Kurve wollte sie soeben abbremsen, als ein Mann eiligen Schrittes mittig die Brücke hinaufstürmte und ihr in die Quere kam. Sie stürzten beide gegeneinander und zerrissen sich ihre Hosen. Blutige Hände, Knie und ein aufgeschlagenes Kinn bemerkte sie an sich, doch ihr Gegner sah nicht minder abgerissen aus. Außerdem hatten sie sich ineinander verknotet, sodass sie nur mühsam ihre Knochen auseinander sortieren konnten. Trotz beiderseitiger Schmerzen mussten sie dann doch gequält lächeln, ein lustiges Knäuel aus Armen und Beinen stellten sie sicher dar.
Einige vorbeigehende Fußgänger fragten, ob sie helfen könnten und ein Mann richtete ihr Fahrrad wieder auf und stellte es seitlich ans Brückengeländer. Sich gegenseitig versichernd, dass fremde Hilfe nicht nötig sei, entschuldigten sie sich gegenseitig beieinander und fragten nach den Blessuren. Sie begutachteten die eigenen oberflächlichen Schürfwunden und dann die beim anderen. Auch die Hosenschäden bekamen ihre nötige Aufmerksamkeit. Dann verhakelten sie wie auf Kommando ihre beiden rechten Daumen ineinander und standen sich etwas ratlos gegenüber.
»Kakao?«, fragte sie.
»Bei mir zu Hause?«
Sie zögerte. Sollte sie direkt mit ihm in seine Wohnung? Zu einem FREMDEN MANN? Andererseits wirkte er vertrauenswürdig, zumal er ihr auch keine Vorwürfe ob ihres übermäßigen Tempos gemacht hatte …
»Du musst deine Wunden säubern und vielleicht kann eine Sicherheitsnadel den Riss der Hosen notdürftig flicken«, argumentierte er besorgt. »Außerdem habe ich das beste Kakaopulver der Welt bei mir stehen. Und ausreichend Milch ist auch vorhanden.«
Sie nickte, immer noch zögernd, und tupfte sich vorsorglich schon einmal mit einem Taschentuch die Wundoberflächen ab. Dann reichte sie auch ihm ein Tuch und er verfuhr ebenso mit seinen Schürfwunden.
»Dann los!«, stimmte sie zu und so humpelten sie gemeinsam durch das untere Drängelgitter der Brücke.
Wohin der Brückenschlag führte? Nun, das ist eine andere Geschichte … nur soviel, es nahm ein gutes Ende 🙂
© Marion Kulinna
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